Seit frühen Kindertagen wählen wir unsere Anführer mit Mehrheiten: mit der einfachen, relativen Mehrheit, mit einem Ausschlussverfahren oder einer Stichwahl. Aber welches Wahlverfahren ist das richtige? Denn je nachdem, welches Verfahren gewählt wird, kommen unterschiedliche Ergebnisse zustande. Kann das Ergebnis als demokratisch legitimiert betrachtet werden, das vom Verfahren abhängt? Zunächst wollen wir verstehen, welche Probleme sich mit typischen Mehrheitswahlen stellen.
Jedes Verfahren ein anderes Ergebnis
Schon Marquis de Condorcet hat in einem Essay aus dem Jahre 1785 erkannt, dass gängige Mehrheitswahlen zu Widersprüchen führen können. Diese Widersprüche lassen sich an einfachen Beispielen aufzeigen.
Betrachten wir ein Wahlvolk, das aus drei Gruppen besteht. Aus drei Kandidaten soll ein Bürgermeister gewählt werden. Innerhalb der jeweiligen Gruppe besteht eine einheitliche Auffassung über die Vorzugswürdigkeit eines jeden Kandidaten. Dies drückt sich in folgenden Präferenzrangfolgen von der ersten bis zur dritten Wahl der drei Gruppen aus:
Wählergruppe | Bevölkerungsanteil in % | Erste Wahl | Zweite Wahl | Dritte Wahl |
1 | 45 | Abel | Becker | Christ |
2 | 15 | Becker | Christ | Abel |
3 | 40 | Christ | Becker | Abel |
Tabelle: Beispiel 1
Bei einer einfachen Mehrheitswahl würde Kandidat Abel mit 45 Prozent der Stimmen vor dem Kandidaten Christ mit 40 Prozent und dem abgeschlagenen Kandidaten Becker mit 15 Prozent als Gewinner hervorgehen, sofern alle Wähler ehrlich gemäß ihren Präferenzen abstimmen.
Platzierung | Wahlergebnis in % |
Einfache Mehrheitswahl |
Gewinner | 45 | Abel |
2 | 40 | Christ |
3 | 15 | Becker |
Tabelle: Beispiel 1 – relative Mehrheit
Gäbe es eine Stichwahl, in der in diesem Beispiel nur zwischen Abel und Christ abgestimmt wird, würden die vormaligen Wähler von Becker zu Christ als deren Zweitwahl überlaufen und Christ somit zum Sieg verhelfen.
Platzierung | Wahlergebnis in % im ersten Wahlgang | Wahlergebnis in % im zweiten Wahlgang | Mehrheitswahl mit Stichwahl |
Gewinner | 40 | 40 + 15 = 55 | Christ |
2 | 45 | 45 | Abel |
3 | 15 | – | Becker |
Tabelle: Beispiel 1 – Stichwahl
Wenn allerdings jeder Kandidat gegen jeden anderen paarweise antritt, dann gewönne Becker gegen Abel mit 55 zu 45 Prozent, Christ gegen Abel ebenfalls mit 55 zu 45 Prozent und Becker gegen Christ mit 60 zu 40 Prozent. In einer paarweisen Einzelabstimmung gewinnt Becker also gegen beide anderen Kandidaten.
Stimmenanteil in paar-weisen Abstimmungen | Becker | Christ | Abel |
Becker | – | 40 | 45 |
Christ | 45 + 15 = 60 | – | 45 |
Abel | 40 + 15 = 55 | 40 + 15 = 55 | – |
Platzierung | Gewinner | 2 | 3 |
Tabelle: Beispiel 1 – Sieger paarweiser Abstimmungen
Erstaunlicherweise würde Becker, der beiden anderen Kandidaten vorgezogen wird, weder bei einfacher Mehrheitswahl noch bei einer Stichwahl zum Zuge kommen. Zwar gewinnt Abel die einfache Mehrheitswahl, verlöre aber die paarweise Abstimmung sogar gegen beide anderen Kandidaten, Becker und Christ.
Lineare Präferenzen
Das obige Beispiel zeigt eine besondere Situation. Es ist möglich, die Kandidaten in einer Reihe aufschreiben, und jede Wählergruppe mit ihren Stimmanteilen unter ihren favorisierten Kandidaten zu notieren. Je weiter ein Konkurrent vom Lieblingskandidaten einer Wählergruppe entfernt liegt, desto weniger wird er durch diese Wählergruppe bevorzugt.
Kandidat | Abel | Becker | Christ |
Stimmanteil in Prozent | 45 | 15 | 40 |
Tabelle: Beispiel 1 – lineare Anordnung der Wählerpräferenzen
Für die Abel-Wähler ist Becker näher an Abel als Christ und daher auch dem Kandidaten Christ vorzuziehen, für die Christ-Wähler ist es umgekehrt. Diese Ausprägung von Präferenzen wird „linear“ genannt: Sie können auf einer Linie (in einer Dimension) notiert werden. Lineare Präferenzen kommen – ohne dies exakt beweisen zu können, dafür wären nämlich Volksbefragungen mit ehrlich antwortenden Mitbürgern erforderlich – durchaus häufiger vor. So liegt die Vermutung nahe, dass die britischen Wähler sich in folgender linearen Präferenzordnung wiederfinden, ohne hier alle weiteren Alternativen eines Brexits benannt zu haben:
No-deal Brexit | Deal-Brexit | No Brexit |
Tabelle: Brexit als Beispiel linearer Präferenzen
Das Condorcet-Paradox
Allerdings muss die Präferenzordnung der Wähler keinesfalls linear ausfallen. Im obigen Beispiel wäre nur eine kleine Veränderung erforderlich, um eine nicht-lineare Präferenz zu erhalten. Eine nicht-lineare Präferenz kommt zu Stande, wenn beispielsweise in der 3. Wählergruppe Abel mit Becker den Platz tauscht.
Wählergruppe | Bevölkerungs-anteil in % | Erste Wahl | Zweite Wahl | Dritte Wahl |
1 | 45 | Abel | Becker | Christ |
2 | 15 | Becker | Christ | Abel |
3 | 40 | Christ | Abel | Becker |
Tabelle: Beispiel 2 – mit nicht-linearen Präferenzen
Die Ergebnisse in einer einfachen Mehrheitswahl mit Gewinner Abel und auch in einer Mehrheitswahl mit Stichwahl mit Gewinner Christ blieben erhalten. In den paarweisen Abstimmungen gibt es im veränderten Beispiel nun jedoch keinen eindeutigen Gewinner mehr.
Stimmenanteil für die Kandidaten | Abel | Becker | Christ |
Abel | – | 15 | 40 + 15 = 55 |
Becker | 45 + 40 = 85 | – | 40 |
Christ | 45 | 45 + 15 = 60 | – |
Tabelle: Beispiel 2 – kein eindeutiger Sieger paarweiser Abstimmungen
Im zweiten Beispiel gewinnt Abel gegen Becker mit 85 zu 15, Becker gegen Christ mit 60 zu 40 und Christ gegen Abel mit 55 zu 45. Die hier angenommenen Gewinnmargen können fast beliebig erhöht oder verringert werden, ohne diesen Zirkelschluss der paarweisen Überlegenheit aufzulösen.
Im zweiten Beispiel haben wir das sogenannte Condorcet-Paradox vor uns. Würde ein Wähler behaupten, er fände Abel besser als Becker, Becker besser als Christ, aber auch Christ besser als Abel, würden wir ihn nicht für zurechnungsfähig halten. Ist „A besser B“ und „B besser C“, dann muss es der Logik entsprechen, dass „A besser C“ ist. Wissenschaftler sprechen von „transitiven“ Präferenzen beziehungsweise von „Transitivität“ der Präferenzen, die diese Eigenschaft eines vernunftbegabten Menschen erfüllen.
Condorcet hat uns vor Augen geführt, dass, obgleich jeder einzelne Wähler logisch konsistente, das heißt transitive Präferenzen haben kann, es in paarweisen Abstimmungen auf Ebene des Wahlvolks zu einer „unlogischen“ Rangfolge kommen kann. Genau diese Situation einer intransitiven Rangfolge tritt in der paarweisen Abstimmung im zweiten Beispiel auf, in dem Abel gegen Becker, Becker gegen Christ und Christ wiederum gegen Abel gewinnt. Zu Ehren des Entdeckers spricht man vom Condorcet-Paradox. Im ersten Beispiel gibt es keinen Zirkelschluss, mithin einen eindeutigen Sieger der paarweisen Abstimmung, den man entsprechend Condorcet-Gewinner nennt.
Strategisches Wählen
Das erste Beispiel zeigt eine typische Situation bei Direktwahlen in Deutschland. Es gibt einen Mittekandidaten, hier Becker, und jeweils einen links und einen rechts der Mitte, Abel und Christ. Wir haben ein klassisches Rechts-Mitte-Links-Schema vor uns, das in der Realität durch mehr als drei Kandidaten angereichert wird, also Bewerbern aus den in den deutschen Parlamenten vertretenen Parteien: Linke, SPD, Grüne, FDP, CDU, CSU, AfD et. cetera.
Wie allseits bekannt, verhalten sich die Mittewähler bei einer einfachen Mehrheitswahl zu einem bedeutenden Anteil strategisch. Das bedeutet, dass sie nicht nach ihrer tatsächlichen Präferenz abstimmen. Vielmehr versuchen sie das Ergebnis zu antizipieren, je nachdem welchen Kandidaten sie ihre Stimme geben, und wählen entweder dennoch ihren Favoriten oder den Kandidaten einer großen Partei als das geringere Übel, je nach den Aussichten, das Ergebnis beeinflussen zu können.
Bei der einfachen Mehrheitswahl entscheiden sich die Anhänger des Mittekandidaten, im obigen Beispiel ist das die Gruppe 2, in aller Regel mit einem bedeutenden Anteil für einen der beiden Randkandidaten. Im Beispiel wäre dies der Kandidat Christ, der sodann die absolute Mehrheit erhielte, würden sich alle Mittewähler rational und strategisch verhalten.
Wählergruppe | Veränderung des Stimmanteils in % | Einfache Mehrheitswahl |
1 | 45 | Abel |
2 → 3 | 15 → 0 | Becker → Christ |
3 | 40 → 55 | Christ |
Tabelle: Beispiel 1 und 2 – strategische Wahl bei relativer Mehrheit
Gäbe es eine Stichwahl, wird die strategische Wahl schon schwieriger zu durchschauen. Die Abel-Wähler müssten erkennen, dass ihr Kandidaten im zweiten Wahlgang gegen Christ unterlegen wäre. In dem Fall würden sie im ersten Wahlgang direkt Becker wählen und diesem ohne Stichwahl zum Sieg verhelfen.
Wählergruppe | Veränderung des Stimmanteils in % | Einfache Mehrheitswahl |
1 → 2 | 45 → 0 | Abel → Becker |
2 | 15 → 60 | Becker |
3 | 40 | Christ |
Tabelle: Beispiel 1 und 2 – strategische Wahl bei Stichwahl
Würden wir als Entscheidungskriterium den Sieg in allen paarweisen Abstimmung zugrunde legen, gibt es im ersten Beispiel tatsächlich keine Manipulationsmöglichkeit, sofern sich die Wähler nicht selbst schaden wollten. Die Wissenschaft nennt diese Eigenschaft „strategiegeprüft“ (englisch: strategy-proof), da die Wähler exakt gemäß ihrer präferierten Rangfolge abstimmen; sie weichen hiervon aus strategischen Überlegungen gerade nicht ab, um ein größeres Übel zu verhindern, wie dies bei der Mehrheits- und der Stichwahl der Fall wäre.
Diese durchaus wünschenswerte Eigenschaft, welche eine Manipulation durch „Lügen“ unmöglich macht, mag einen dazu verleiten, das Kriterium eines Sieges aller paarweisen Abstimmungen für Wahlen in Betracht zu ziehen.
Aber diese Manipulation ist im zweiten Beispiel auch bei der paarweisen Abstimmung möglich. Im zweiten Beispiel ist es erforderlich, ein weiteres Kriterium für den Sieg einzuführen, da es keinen Condorcet-Gewinner gibt, mithin ein Zirkelschluss vorliegt. Dieses Zusatzkriterium könnte beispielsweise der höchste Stimmanteil wie bei der Mehrheitswahl sein oder die höchste Gewinnmarge, welche beide Abel zum Sieger machten (größte Mehrheit von 45 Prozent oder höchste Gewinnmarge von 85 zu 15).
Nun fragt sich, welche Wählergruppe die Wahl manipulieren kann. Die Abel-Wähler sind zufrieden. Die Christ-Wähler mögen Abel lieber als Becker und bekommen alleine ihren Favoriten nicht durch, was eine Manipulation für sie aussichtslos erscheinen lässt. Aber die Becker-Wähler könnten Christ zu ihrem Favoriten machen, da sie ihn Abel vorziehen, den sie zu verhindern suchen. Dann wäre Christ mit 55 Prozent der eindeutige Gewinner der absoluten Mehrheit in jeder paarweisen Abstimmung.
Wählergruppe | Bevölkerungs-anteil in % |
Erste Wahl | Zweite Wahl | Dritte Wahl |
1 | 45 | Abel | Becker | Christ |
2 | 15 |
Becker Christ → |
← |
Abel |
3 | 40 | Christ | Abel | Becker |
Tabelle : Beispiel 2 – Manipulation, wenn kein Condorcet-Gewinner existiert
Erkenntnisse der Sozialwahltheorie
Was vorstehend anhand von Beispielen herausgearbeitet wurde, haben Wissenschaftler rigorosen Beweisen unterworfen. Bahnbrechend war die Dissertation von Kenneth J. Arrow, die das erste Unmöglichkeitstheorem in die Sozialwahltheorie eingeführt hat. Neben seinen Leistungen in der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie hat ihm dies 1972 den Preis für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank zu Ehren von Alfred Nobel eingetragen. Das Theorem – nachstehend in kursiver Schrift skizziert – besagt vereinfacht formuliert folgendes:
Unmöglichkeitstheorem Arrow: Es ist unmöglich, ein Wahlverfahren für mehr als zwei Alternativen zu konstruieren, das zugleich die folgenden wünschenswerten Eigenschaften aufweist:
- Das Verfahren führt für alle möglichen Präferenzen der Wähler stets zu einem Ergebnis, das alle zur Entscheidung anstehenden Alternativen in einer Rangfolge ordnet bzw. eine Gewinneralternative feststellt.
Sicherlich ist die Voraussetzung für ein Entscheidungsverfahren unentbehrlich, dass es überhaupt zu einem Ergebnis gelangt, unabhängig von den Wunschvorstellungen der Beteiligten. In der Regel reicht es aus, einen Gewinner festzustellen. Bei der Aufstellung von Wahllisten werden hingegen Rangfolgen der Kandidaten benötigt.
- Kein Diktator oder eine zuvor exogen festgelegte Rangfolge bestimmen das Ergebnis.
Das bedarf wohl keiner Erläuterung.
- Gewinnt eine bestimmte Alternative in der Gunst von einigen Wählern und verliert nicht bei den übrigen Wählern, dann weist das Ergebnis diese Alternative keinesfalls mit einem schlechteren Rang aus als das vorherige Ergebnis.
Diese Eigenschaft wird positives Stimmgewicht oder in der Wissenschaft „Monotonie“ genannt. Ein mehr an Stimmen sollte einer Alternative nicht schaden. Aber wir wissen aus der Wahl zum schleswig-holsteinischen Landtag und der Bundestagswahl im Jahre 2009, dass unsere Wahlsysteme diese Eigenschaft nicht immer erfüllen.
- Die Rangfolge von zwei Alternativen zueinander wird im Ergebnis nicht verändert, wenn sich die individuellen Präferenzen der Wähler ausschließlich über andere als die beiden relevanten Alternativen ändern.
Über den Philosophen Sidney Morgenbesser wird hierzu folgende Anekdote berichtet: Nach dem Essen entschied sich Morgenbesser Dessert zu bestellen. Die Kellnerin ließ ihn zwischen Apfel- und Blaubeerkuchen wählen; er bestellte den Apfelkuchen. Nach einer Weile kam die Kellnerin mit der Nachricht, man habe auch Kirschkuchen im Angebot, worauf Morgenbesser erwiderte: „In diesem Falle hätte ich dann doch gerne den Blaubeerkuchen“.
Wenn also zum Sieger irrelevante Alternativen von den Wählern anders geordnet oder sogar in die Abstimmung neu eingeführt werden, kann das nicht dazu führen, dass hieraus ein anderer Gewinner hervorgeht.
Später in den 1970ern haben zwei Wissenschaftler, Gibbard und Satterthwaite, bewiesen, dass die beiden Eigenschaften der Monotonie und der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen gleichbedeutend sind mit der Möglichkeit des strategischen Wählens. Mit anderen Worten führt dies zu folgender Abwandlung des Theorems:
Unmöglichkeitstheorem Gibbard und Satterthwaite: Es ist unmöglich, ein Wahlverfahren für mehr als zwei Alternativen zu konstruieren, das zugleich die folgenden wünschenswerten Eigenschaften aufweist: Das Wahlverfahren …
- führt für alle möglichen Präferenzordnungen der Wähler zu einem Ergebnis.
- ist nicht diktatorisch.
- bietet keine Gelegenheit, mit einer Stimmabgabe, die nicht der wahren Präferenz entspricht, einen Vorteil zu erzielen.
Die ernüchternde Erkenntnis ist, dass es im Sinne dieser Idealvorstellungen keine optimalen Wahlverfahren gibt. Ausnahme sind zwei Situationen, die bereits in den vorherigen Beispielen angeklungen sind:
- Es gibt nur zwei Alternativen. In diesem Fall ist offenkundig die Mehrheitswahl anzuwenden, welche die obigen Anforderungen erfüllt.
- Die Präferenzen der Wähler sind linear geordnet. In dieser Situation erfüllt das Wahlverfahren die oben kursiv geschriebenen, idealen Eigenschaften dann und nur dann, wenn der Medianwähler den Sieger beziehungsweise die Gewinnalternative bestimmt.
Medianwähler für lineare Präferenzen
Der Median-Wähler teilt das Wahlvolk auf der linearen Anordnung der Kandidaten, in zwei gleich große Hälften. Im ersten Beispiel sieht dies wie folgt aus:
Kandidat | Abel | Becker | Christ | |
50 %-Mehrheit | 50 | 50 | ||
Stimmanteil in Prozent | 45 | 15 | 40 |
Tabelle: Medianwähler bestimmt das Ergebnis bei linearen Präferenzen
Der Median-Wähler liegt in der Gruppe der Becker-Wähler. Gemäß dem Medianwählerkriterium wäre Becker gewählt. Bei linearen Präferenzen stimmen Medianwähler und Condorcet-Gewinner immer überein. Liegt hingegen keine lineare Präferenzordnung vor (und somit gibt es auch keinen Medianwähler), kann es dennoch einen Condorcet-Gewinner geben.
Eine lineare Präferenzordnung bei einer Personenwahl zu unterstellen, ist im demokratischen Diskurs unmöglich. Die Beurteilungskriterien der Wähler sind derart vielfältig, dass sich diese nicht auf eine Dimension projizieren, geschweige denn vom Gesetzgeber oktroyieren lassen, was gerade bei einer linearen Anordnung erforderlich wäre. Gleichwohl gibt es Sachentscheidungen, wo eine solche Annahme nicht abwegig sein mag, zum Beispiel die Abstimmung über den Brexit:
No-deal Brexit | Deal-Brexit | No Brexit |
Tabelle: Brexit als Beispiel linearer Präferenzen
Es liegt geradezu auf der Hand, dass harte Brexitiers einen Deal-Brexit einem Remain vorziehen, und die Remainer einen Deal-Brexit dem harten Brexit. Dies ergibt eine lineare Präferenzanordnung. Das britische Unterhaus oder das Wahlvolk könnten über die Alternativen also gemäß dem Medianwählerprinzip abstimmen. Hierfür wäre nur eine Wahl mit einem Kreuz für jeden Abgeordneten beziehungsweise Wähler erforderlich, wenn diese lineare Anordnung von vornherein für die Wahl feststünde. Im Gegensatz zum Verfahren, das sich das britische Unterhaus aufgegeben hat, nämlich jede Alternative gegen „Nein“ abzustimmen, führt das Medianwählerverfahren immer zu einem Ergebnis.
Tatsächlich findet sich auch im deutschen Recht das Medianwahlverfahren in verklausulierter Form wieder. In § 196 Absätzen 2 und 3 Gerichtsverfassungsgesetz heißt es:
(2) Bilden sich in Beziehung auf Summen, über die zu entscheiden ist, mehr als zwei Meinungen, deren keine die Mehrheit für sich hat, so werden die für die größte Summe abgegebenen Stimmen den für die zunächst geringere abgegebenen so lange hinzugerechnet, bis sich eine Mehrheit ergibt.
(3) 1Bilden sich in einer Strafsache, von der Schuldfrage abgesehen, mehr als zwei Meinungen, deren keine die erforderliche Mehrheit für sich hat, so werden die dem Beschuldigten nachteiligsten Stimmen den zunächst minder nachteiligen so lange hinzugerechnet, bis sich die erforderliche Mehrheit ergibt. 2Bilden sich in der Straffrage zwei Meinungen, ohne daß eine die erforderliche Mehrheit für sich hat, so gilt die mildere Meinung.
In allgemeinen Gerichtsverfahren, in denen bei der Urteilsfindung mehr als zwei Meinungen vorliegen, nähert sich der Spruchkörper von der höheren Summe, und beim Strafverfahren von der härtesten Strafe her dem Median an, bis die absolute Mehrheit so gerade erreicht ist.
Condorcet-Verfahren für Bürgermeisterwahlen?
Für die Bürgermeisterwahl ist die Vorgabe einer linearen Anordnung – wie oben dargelegt – nicht mit demokratischen Prinzipien vereinbar. Allerdings könnten lineare Präferenzen im Verborgenen auch bei Personenwahlen vorliegen, ohne dass diese vorgegeben wären, das klassische Links-Rechts-Schema kommt hierfür naturgemäß in Betracht. Würde also das vorliegende Wahlverfahren nicht den Condorcet-Gewinner als Sieger küren, bestünden Manipulationsmöglichkeiten selbst bei Vorliegen linearer Präferenzen. Dies hat uns bereits die Diskussion der Beispiele gezeigt.
Obgleich die in den obigen Theoremen postulierten Eigenschaften überzeugend klingen, liegen gerade bei Wahlen zum Bürgermeister Gründe vor, gegebenenfalls andere Kriterien höher zu gewichten. Beispielsweise mag es wünschenswert erscheinen, dass der Bürgermeister eine eigene, signifikante Parteimacht hinter sich versammeln kann. Das ist bei einem Kompromisskandidaten aus einer kleineren Partei nicht immer gegeben. Der Condorcet-Gewinner beziehungsweise der Gewinner des Medianwählers ist aber gerade oftmals ein solcher Kompromisskandidat.
Hinzu kommt, dass die Auszählung paarweiser Abstimmungen bei mehr als drei Kandidaten sich aufwändig und intransparent gestaltet, wenn nicht dafür Computer eingesetzt werden. Der Einsatz von Computern in Wahlen wird angesichts potentieller Manipulationen weithin sehr skeptisch gesehen. Für Personenwahlen dieser Art kommt daher das unmittelbare Ausschlussverfahren in Frage, welches ich in einem anderen Artikel vorgestellt habe.
Das beste Wahlverfahren ist nicht immer eindeutig und richtet sich nach dem Zweck, den technischen Möglichkeiten und den Präferenzen der Wähler. In einem weiteren Artikel werde ich verschiedene Anwednungsgebiete vorstellen.
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