… wenn stattdessen ein Rangwahlverfahren eingeführt wird. Ein Rangwahlverfahren stellt bereits im ersten Wahlgang eine Entscheidung mit hoher demokratischer Legitimation sicher.

CDU und FDP haben in NRW die Stichwahlen zu kommunalen Spitzenämtern abgeschafft.1 Mit den nächsten Kommunalwahlen ab 2020 soll dann die einfache, relative Mehrheit im ersten Wahlgang reichen, um als Landrat, Bürgermeister oder Oberbürgermeister gewählt zu werden.2 Dieses Ansinnen um das Streben nach Macht über die Kommunen hat eine Vorgeschichte.


Was bisher geschah

In Nordrhein-Westfalen gab es bis 1999 in den größeren, kreisfreien Städten das Amt des Oberstadtdirektors, der vom Rat gewählt wurde. Er stand der Stadtverwaltung als oberster, hochdotierter Beamter vor. Neben ihm repräsentierte der ehrenamtlich tätige Oberbürgermeister die Stadt, aber er regierte sie nicht. Gleichwohl wussten die Oberbürgermeister die Ratsmehrheiten zu nutzen und so die Geschicke der kreisfreien Städte – teilweise gegen die Oberstadtdirektoren – zu lenken.

Die Lage in Städten mit Stadtdirektor und Bürgermeister beziehungsweise in Kreisen mit Kreisdirektor und Landrat ist im Prinzip die gleiche wie in kreisfreien Städten. Diese Zweigleisigkeit war Erbe der britischen Besatzungszeit. Was im Bund zwischen Bundeskanzler und Bundespräsident gut funktioniert, führte auf kommunaler Ebene zu unklaren Verantwortlichkeiten, Blockaden und Ineffizienzen. 1994 wurde die Doppelspitze abgeschafft. Die nun auf die hauptberuflichen Oberbürgermeister, Bürgermeister und Landräte konzentrierte Macht als erster Repräsentant der Kommune und zugleich Dienstherr ihrer Verwaltung erforderte eine besondere demokratische Legitimierung. Seit 1999 wählen die Bürger in NRW ihre kommunalen Spitzenbeamten daher in direkter Wahl.

§ 65 der Gemeindeordnung NRW legt fest, dass die Prinzipien der Mehrheitswahl anzuwenden sind; das Erfordernis einer Stichwahl ist hieraus nicht abzuleiten. Die Stichwahl wurde bisher (beziehungsweise wird noch bis zum Inkrafttreten der Gesetzesänderung) in § 46 c Absatz 2 des NRW-Kommunalwahlgesetzes geregelt und war schon des Öftern Gegenstand von politischen und gerichtlichen Auseinandersetzungen.

Unter der CDU/FDP-Regierung mit Ministerpräsident Rüttgers wurde die Stichwahl 2004 erstmals abgeschafft. Mitglieder des Landtags aus SPD und Grüne klagten in Folge dessen vor dem Verfassungsgerichtshof. Mit Urteil VerfGH 2/09 vom 26. Mai 2009 wurde die Klage abgewiesen. Die Verfassungsrichter konnten nicht erkennen, dass das Fehlen einer Stichwahl das in der Landesverfassung beziehungsweise im Grundgesetz niedergelegte Demokratieprinzip verletzt. Nunmehr wieder an der Macht führten SPD und Grüne die Stichwahl 2011 – übrigens mit Stimmen der FDP – erneut ein. Nach dem letzten Machtwechsel in 2017 zu CDU und FDP wird nun zum zweiten Mal die Abschaffung der Stichwahl gegen die Opposition durchgesetzt.


Alles nur Machtpolitik

Das vermag kaum zu überraschen. Die CDU ist die stärkste Kraft in NRW. Kandidaten der CDU werden in den meisten Wahlen zu den kommunalen Spitzenämtern im ersten Wahlgang die Nase vorn haben. In der Stichwahl könnten sie höchstens einer Koalition der übrigen Parteien unterliegen. Schafft der Landtag die Stichwahl ab, steigen die Chancen für Kandidaten der CDU, die sich dem Risiko einer Stichwahl dann nicht mehr stellen müssen.

Die FDP hat nicht viel zu verlieren. Ihre eigenen Kandidaten für die Spitzenämter haben keine Chance gegen die der größeren Parteien. Der FDP bleibt nur die Möglichkeit, sich mit anderen Parteien zusammenzutun und einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Dies ist der FDP im Konzert mit Grünen, CDU, den Freien Wählern und der Wählergruppe Deine Freunde beispielsweise mit Henriette Reker gelungen. Reker hat sich in der Wahl zur Oberbürgermeisterin Kölns in 2015 gegen den SPD-Kandidaten Jochen Ott durchsetzt.3

Aufgrund der größeren Nähe der FDP zur CDU – zumindest in der heutigen Zeit – ist auch die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass die FDP die Kandidaten der CDU unterstützt. Die FDP profitiert somit mittelbar von den besseren Chancen der CDU-Kandidaten. Wie ich im Folgenden noch ausführe, benachteiligt die einfache, relative Mehrheit die kleineren Parteien. Auch wenn die FDP mit der Abschaffung der Stichwahl als Partei nicht viel verliert, verlieren die Wähler der FDP mit Abschaffung der Stichwahl eindeutig an Einfluss auf das Wahlergebnis.

Die FDP hat sich bemerkenswerterweise 2011 der rot-grünen Landesregierung angeschlossen, die Stichwahl wieder einzuführen, die sie nunmehr mit der CDU abgeschafft hat. Die Vermutung liegt nahe, dass die Zustimmung der FDP zur Abschaffung der Stichwahl in einem Kuhhandel mit der CDU erlangt wurde, der ihr an anderer Stelle Vorteile verschafft. Für Hinweise per Kommentar oder E-Mail zu einem möglichen Deal wäre ich Euch dankbar.


Gründe gegen die Stichwahl

Wir können also unumwunden feststellen, dass machtpolitische Faktoren bei der Abschaffung der Stichwahl eine bedeutende Rolle spielen. Andererseits lassen sich auch Argumente gegen die Stichwahl nicht in Abrede stellen. In vielen Fällen sinkt die Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang, was die demokratische Legitimation des Siegers trübt. Auch wird in den meisten Fällen der Gewinner der relativen Mehrheit des ersten Wahlgangs bestätigt, was einen zweiten Wahlgang überflüssig erscheinen lässt. Offenkundig kosten Stichwahlen den Steuerzahler viel Geld.

Meine Analyse der Oberbürgermeisterwahlen in den kreisfreien Städten, die zwischen 2013 und 2015 stattfanden, ergibt folgendes Bild:4

  • Das niedrigste Ergebnis im ersten Wahlgang war 38 Prozent für den SPD-Kandidaten zum Oberbürgermeister der Stadt Bochum, das zu einer relativen Mehrheit gereicht hätte.
  • In 12 von 23 Großstädten hat eine Stichwahl stattgefunden, also in etwa 50 Prozent der Fälle.
  • Die durchschnittliche Wahlbeteiligung sank von 41 Prozent in der Hauptwahl auf nur 32 Prozent in der Stichwahl; dies entspricht einem Minus von 9 Prozentpunkten oder rund einem Viertel der Wähler des ersten Wahlgangs.
  • In 5 von 12 Fällen erhielt der Gewinner der Stichwahl weniger Stimmen als im ersten Wahlgang.
  • In lediglich 3 von 12 Stichwahlen wurde der Herausforderer aus der Hauptwahl gewählt.
  • Nur in einem dieser drei Fälle, der Stadt Mönchengladbach, in der der Herausforderer die Stichwahl gewonnen hat, macht es aufgrund der Gewinnmargen den Anschein, dass der Sieger der Hauptwahl bei gleichbleibender Wahlbeteiligung der Gewinner geblieben wäre.

Zumindest für die kreisfreien Städte lässt sich sagen, dass lediglich in 3 von 23 Fällen in der Stichwahl ein anderes Ergebnis erzielt wurde, davon eines wohl alleine in Folge der niedrigeren Wahlbeteiligung. Insgesamt litt die Wahlbeteiligung in den Stichwahlen erheblich.

Ich habe den Aufwand gescheut, die Landrats- und Bürgermeisterwahlen und frühere sowie spätere Jahre rigoros auszuwerten, was zusätzliche Erkenntnisse hätte liefern können.5 Vor der erneuten Einführung der Stichwahl in 2011 sind beispielsweise Ergebnisse bekannt, die eine demokratische Legitimation stark in Zweifel ziehen lassen, wie die Wahl von Daniel Zimmermann mit 30,4 Prozent zum Bürgermeister von Monheim am Rhein in 2009. Auch wenn Zimmermann in der Folgewahl 2014 als sehr beliebter Amtsinhaber haushoch mit knapp 95 Prozent bestätigt wurde und sich damit wohl auch für 2009 als die richtige Wahl im Nachhinein herausstellte, kann dies aus der Perspektive von 2009 mit einem Ergebnis von weniger als einem Drittel der Stimmen kaum behauptet werden.

Festzuhalten bleibt, dass sich die Gründe der CDU/FDP-Regierung zur Abschaffung der Stichwahl – unzureichende Wahlbeteiligung und kaum Wechsel des Gewinners – auf Basis meiner begrenzten empirischen Auswertungen grundsätzlich bestätigen lassen. Etwas anderes wäre auch nicht zu erwarten gewesen. Warum sollten all die Wähler der abgeschlagenen Kandidaten ein zweites Mal zur Wahl schreiten wollen, um lediglich das aus ihrer Sicht geringere Übel zu wählen? Warum sollten sich die Mehrheitsverhältnisse zwischen Hauptwahl und Stichwahl plötzlich umkehren? Die naheliegenden Antworten auf beide Fragen führen zu den festgestellten Ergebnissen geringerer Wahlbeteiligung und gleichbleibender Gewinner in Haupt- und Stichwahl. Eine Überraschung konnte dies kaum gewesen sein.


Gründe für die Stichwahl

Ungeachtet dessen lässt sich ebenso zweifelsfrei feststellen, dass es Situationen gibt wie in Monheim am Rhein in 2009, in denen die relative Mehrheit im ersten Wahlgang – teilweise mit kaum einem Drittel der Stimmen – keine ausreichende demokratische Legitimation vermittelt. Dergleichen ist auch die Aussage der Antragsteller der CDU/FDP eindeutig widerlegbar, dass die Erfahrungen aus Wahlen zum Land- und Bundestag zeigen, die relative Mehrheit lasse keine Zweifel an der demokratischen Legitimation aufkommen.6 Die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl für die Direktkandidaten liefern keineswegs ein überzeugendes Bild demokratischer Legitimation, wie folgendes Beispiel zeigt:

Karsten Möring, CDU, wurde mit bloß 31,6 Prozent der Stimmen im Wahlkreis Köln I, Nr. 93 NRW, gewählt. 31,0 Prozent der Stimmen entfielen auf den Kandidaten der SPD. Die CDU kam im Wahlkreis 93 auf einen Stimmenanteil bei den Zweitstimmen von lediglich 26,4 Prozent. Gut 7 000 Stimmen konnte der CDU-Kandidat mehr erlangen als seine Partei. Beim SPD-Kandidaten lag der Unterschied bei etwas über 9 000 zwischen Erst- und Zweitstimmen. Mehr als 37 Prozent der Erststimmen wurden für andere Kandidaten als die der großen Parteien CDU und SPD abgegeben. Bei den Zweistimmen erreicht der Stimmenanteil, der auf die anderen Parteien entfallen ist, fast die Hälfte, genau 49,3 Prozent.

Zusammenfassend lässt sich schon anhand dieses Beispiels sagen, dass die relative Mehrheit von Zufällen materiell beeinflusst wird. Unter anderem ist das Ergebnis abhängig davon, mit welchem Anteil Wähler getreu ihren Präferenzen (im Beispiel etwa 88 Prozent) oder strategisch (hier etwa 12 Prozent) wählen. Im obigen Beispiel gewinnt Möring mit einer Marge von bloß 0,6 Prozentpunkten, das sind weniger als 1 000 Stimmen und nur ein Bruchteil der Stimmen, die auf dritte Kandidaten oder sich strategisch verhaltende Wähler entfielen. Von einer starken demokratischen Legitimation eines Direktkandidaten mit einer relativen Mehrheit weit unterhalb der absoluten Mehrheit und zudem einer Gewinnmarge innerhalb der Schwankungsbandbreite kann mithin auch bei Bundestagswahlen keineswegs gesprochen werden.


Was sagt die Wissenschaft zur relativen Mehrheit?

Kommen wir zu den Gründen, die aus polit-ökonomischer Sicht gegen die relative Mehrheit als Entscheidungskriterium sprechen. Einige dieser Gründe lassen sich bereits aus den obigen Beobachtungen ableiten, aber es gibt weiterer Gründe. Lasst mich diese an dieser Stelle zusammentragen:

  • Die Wähler, die Kandidaten bevorzugen, die nicht zu den beiden Favoriten gehören, werden entweder zu einer strategischen Wahlentscheidung veranlasst, einen der Favoriten als das kleinere Übel zu wählen, oder müssen die Verschwendung ihrer Stimme für einen aussichtslosen Kandidaten befürchten.
  • Der Anteil der strategisch agierenden Wähler wird von vielen Faktoren beeinflusst, die sich kaum erklären lassen, und führt damit zu zufallsbehafteten Wahlergebnissen, je nachdem wie viele Wähler aus welchem Lager sich strategisch verhalten.
  • Selbst völlig aussichtslose Kandidaten können Stimmen auf sich ziehen und damit einem der Favoriten zum Sieg verhelfen, und zwar gerade dem der beiden Favoriten, der dem sogenannten Spoiler-Kandidaten gerade nicht nahesteht. Dies wird als Spoiler-Effekt bezeichnet und trat beispielsweise bei der US-Präsidentenwahl 2000 auf, bei der Nader Gore den Sieg in Florida gekostet hat und damit auch die Wahlmänner/-frauen, die für Gores Sieg erforderlich gewesen wären. Es könnten sogar Kandidaten aufgestellt werden, die gerade einen solchen Spoiler-Effekt bewirken sollen, um einen bestimmten Favoriten zu verhindern.
  • Die relative Mehrheitswahl befördert eine Konzentration auf Opponenten zweier Parteien, bekannt als Duverger’s law. Kandidaten kleinerer Parteien werden angesichts aussichtsloser Wahlchancen von vornherein abgeschreckt oder können mangels ausreichender Stimmzahlen im Hauptwahlgang keine Reputation über einen längeren Zeitraum aufbauen. Mithin leidet Vielfalt und Innovationskraft des Wahlsystems. 
  • Der Gewinner der relativen Mehrheit könnte jedem anderen Kandidaten (oder jedem Kandidaten einer relevanten Favoritengruppe) mit Mehrheit unterliegen (sogenannter Condorcet-Verlierer); nach dem Majoritätsprinzip wäre er somit der schlechteste aller Kandidaten (beziehungsweise aller Favoritenkandidaten). Bei einer Stichwahl ist dies nicht möglich. Im obigen Beispiel zum Wahlkreisabgeordneten Möring wäre es durchaus im Rahmen des Denkbaren, dass er in paarweiser Abstimmung dem SPD- und dem Grüne-Kandidaten unterlegen gewesen wäre, welche die relevanten Herausforderer waren.

Billig ist die Stichwahl nicht

Für die Kommunen spielen die Kosten der Stichwahl keine unbedeutende Rolle. Wenn doch kaum ein Gewinner zwischen relativer Mehrheit und Entscheid in der Stichwahl wechselt, sollte dann das Geld nicht besser für wichtigere Dinge ausgegeben werden?

Bei den Kosten für eine Bürgermeisterstichwahl ist von erkläglichen Beträgen auszugehen. Für die Wahl des Oberbürgermeisters wurden im Haushaltsplan der Stadt Köln für das Jahr 2015 rund 5 Millionen Euro eingestellt.7 Für die Wahl mussten die Stimmzettel neu gedruckt und die Wahl verschoben werden, was nach Recherchen der Zeit insgesamt Mehrkosten von 1 Million Euro verursacht habe.8 Der Aufwand für die Wahlen 2014 wurde von der Stadt Düsseldorf mit knapp 7 Millionen Euro festgestellt.9 Die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände NRW schätzt 2011 in einer Stellungnahme die Mehrkosten der Einführung der Stichwahl im Minimum auf 4,2 Millionen Euro pro Wahl für alle Kommunen in NRW,10 was ich für eine erhebliche Untertreibung halte. Eine genauere Analyse der Haushalte der Städte, die eine Stichwahl zu verzeichnen hatten, wäre erforderlich, um die Kosten der Stichwahl genauer zu beziffern. Nach meiner Schätzung wäre alleine für die Stadt Köln mit Mehrkosten von mindestens 1 Millionen Euro für eine zusätzliche Stichwahl zu rechnen.


Die Jurisprudenz lässt eine Hintertür offen

Aber können wir eine geringere demokratische Legitimation überhaupt gegen die damit einhergehende Kostenersparnis aufrechnen? Steht die demokratische Legitimation nicht über allen anderen Zielen, die wir mit dem eingesparten Geld befördern könnten?

Der Verfassungsgerichtshof des Landes NRW hat in seinem Urteil einige wesentliche Punkte klargestellt. Laut Auffassung des Gerichts genüge die relative Mehrheit für kommunale Spitzenämter der erforderlichen demokratischen Legitimation, ungeachtet höherer Anforderungen für bedeutendere Ämter wie Ministerpräsidenten, Bundeskanzler und Bundespräsident. Die in einem Wahlverfahren innewohnenden Anreize zu strategischem Wahlverhalten, auch wenn diese kleinere Parteien benachteiligen, stehen nicht im Widerspruch zu den Grundsätzen der Wahlgleichheit, der Chancengleichheit und der unmittelbaren Wahl. Auch sieht das Verfassungsrecht nicht das Erfordernis vor, ein irgendwie geartetes optimales Wahlverfahren einzuführen oder ein ausgesprochen vorteilhaftes Wahlverfahren aufrechtzuerhalten.

Die Abschaffung der Stichwahl muss – so gebietet es das Willkürverbot – hingegen nachvollziehbar begründet und mit signifikanten Vorteilen verbunden sein, die überwiegen und deren Abwägung mit den Nachteilen der Gesetzgeber vornimmt; das war seinerzeit in 2004 der Fall. In einem Generalplazet hält das Gericht den Gesetzgeber an „im Blick zu behalten, ob das bestehende Wahlsystem den erforderlichen Gehalt an demokratischer Legitimation auch zukünftig zu vermitteln vermag“, konkretisiert jedoch nicht die Bedeutung dieser Anforderung.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die verfassungsrechtlichen Grenzen weit gesteckt sind. Die erneute Abschaffung der Stichwahl in 2019 für Wahlen ab 2020 lässt sich vor dem Hintergrund dieses Urteils schwerlich verfassungsrechtlich angreifen. Rechtliche Gründe, die gegen eine erneute Abschaffung sprechen, sind schwer zu fassen.11 Sie könnten darin liegen, dass die gleichen Vor- und Nachteile dem Gesetzgeber bei der Wiedereinführung der Stichwahl in 2010 bereits vorlagen, die der Landtag seinerzeit bewusst schon abgewogen hat. Ein „hin und her“, ohne die Entscheidung auf substantiell neue Erkenntnisse zurückzuführen, trägt sicher nicht zur Vermittlung einer demokratischen Legitimation bei und wird auch nicht dem Willkürverbot gerecht. Um diese grundgesetzliche Pflicht des Gesetzgebers nicht zu verletzen, müsste der Gesetzgeber nunmehr neue Erkenntnisse über die Vor- und Nachteile vortragen, die die Abschaffung der Stichwahl in einem anderen Licht erscheinen lassen als zum Zeitpunkt ihrer Wiedereinführung. Nach meiner Auffassung dürfte die vorgelegte Gesetzesbegründung dieser Anforderung kaum genügen.

Der Souverän, also wir wahlberechtigten Bürger, haben – aus verfassungsrechtlicher Sicht – keinen Anspruch auf ein gutes, geschweige denn ein optimales Wahlverfahren. Wir haben lediglich ein Anspruch auf ein Wahlverfahren, das den Wahlgesetzen, der Verfassung des Landes NRW und dem Grundgesetz genügt. Und die relative Mehrheit ist ein solches Wahlverfahren. Es muss also vielmehr politisch überzeugende als verfassungsrechtliche Gründe geben, ein besseres Verfahren aufrechtzuerhalten oder wieder einzuführen.


Was sind Rangwahlverfahren?

Wie der Name schon sagt, gibt der Wähler bei einem Rangwahlverfahren den Kandidaten Rangordnungszahlen gemäß seinen Präferenzen. Seinem Favoriten gibt er die Eins, dem nächst präferierten Kandidaten die Zwei, usw. usf. Die höchst mögliche Rangordnungszahl ist gleich der Anzahl der Kandidaten. Der Wähler muss nicht alle Ränge verteilen, sondern kann auch bei einem bestimmten Rang aufhören. Es können auch andere Einträge auf dem Wahlzettel zugelassen werden, zum Beispiel ein Kreuz statt der Eins. Im Falle des Kreuzes macht dies deshalb Sinn, weil wir traditionell mit dem Kreuz unsere präferierte Wahl zum Ausdruck gebracht haben. Damit würde die Fehlertoleranz verbessert.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Wahlzettel für eine Rangwahl zu gestalten. Um die Möglichkeiten zu verdeutlichen, werden nachstehend drei gültige und rechts eine ungültige Stimmabgabe beispielhaft anhand des Wahlzettels zur letzten Kölner Oberbürgermeisterwahl in 2015 gezeigt:


Quelle: Stadt Köln, https://www.stadt-koeln.de/politik-und-verwaltung/presse/neuer-stimmzettel-fertig

Ich nutze vorstehenden Wahlzettel, um vier mögliche Stimmabgaben darzustellen:

Quelle: Eigene, farbig-markierte Ergänzungen auf einer Kopie des Wahlzettels

Der linke Zettel wird nur für den angekreuzten Kandidaten gezählt, im Beispiel also Reker. Wäre Reker ausgeschieden, hätte die Stimme keinen Einfluss mehr gehabt. Beim zweiten Wahlzettel erhält erst der Kandidat mit dem ersten Rang „1“ die Stimme, dann der mit dem zweiten oder dritten Rang. Scheiden alle drei Kandidaten aus, verfällt in der weiteren Auszählung die Stimme. Der dritte, rechts-gesinnte Wähler hat eine vollständige Rangfolge angegeben, die in entsprechender Reihenfolge für den jeweils am höchsten Platzierten gezählt wird, der in der Auszählung noch im Rennen ist. Der vierte Wahlzettel ist ungültig, da ein Ankreuzen und eine Rangzahl „1“ keine eindeutige Rangfolge erkennen lässt.

In Ländern, die bereits eine Rangwahl eingeführt haben, machen es die Stimmzettel den Wählern und den Auszählern noch einfacher. Statt ein Kreis pro Kandidaten, in dem die Rangordnungszahl einzutragen wäre, werden am rechten Rand neben den Namen der Kandidaten für jede mögliche Ordnungszahl ein Kreis abgebildet, der lediglich angekreuzt oder ausgefüllt werden muss. Nachstehend ist ein Musterwahlzettel aus Maine, USA, zur Wahl des Senators und des Kongressabgeordneten für den Wahlbezirk Acton/Lebanon in 2018 abgebildet.

Quelle: Maine, Secretary of State,
https://www.maine.gov/sos/cec/elec/upcoming/pdf/CD1.SampleBallot.pdf

Die höhere Komplexität der Stimmabgabe ist dem Wähler zuzutrauen. Bei den Kommunalwahlen in Bayern können die Wähler einzelnen Kandidaten bis zu drei Stimmen zukommen lassen, gemäß dem sogenannten Kumulieren von Stimmen, indem sie im Feld neben dem bevorzugten Kandidaten die Stimmzahl eintragen. Insofern bestehen in Deutschland bereits Wahlverfahren, bei denen der Wähler Stimmen mit Zahlenangaben verteilt. Dem Wähler könnte – bei traditionellen Wahlzetteln mit nur einem Kreis pro Kandidaten – bei Aushändigung des Wahlzettels auch passende Aufkleber mit Zahlen von 1 bis zur Anzahl der Kandidaten mitgegeben werden, die er auf die Felder kleben kann. Diese Maßnahme würde das Risiko einer unleserlichen, mithin ungültigen Stimmabgabe nochmals reduzieren.


Und wie wird das ausgezählt?

Mit einem Rangwahlverfahren bieten sich viele Möglichkeiten, die Stimmen auszuzählen. Ich werde hier nur zwei Verfahren und in einem Folgeartikel Euch weitere Verfahren vorstellen.

Das erste Verfahren ist die unmittelbare Stichwahl. Diese integriert die den Bürgern bereits bekannte Stichwahl in den Hauptwahlgang unverändert. Die Auszählung läuft ab wie folgt:

  1. Im Hauptwahlgang vergeben die Wähler Ränge von „1“ bis maximal zur Anzahl der Kandidaten oder alternativ nur ein Kreuz.
  2. In der ersten Wahlrunde werden die Stimmen mit „1“ und „Kreuz“ ausgezählt. Erhält ein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen, ist er gewählt.
  3. In der zweiten Wahlrunde werden alle Stimmen nur noch auf die beiden nach relativen Stimmanteilen führenden Kandidaten verteilt. Es erhält der Kandidat die Stimme, der auf dem Stimmzettel mit Kreuz oder der niedrigeren Rangzahl, d.h. dem höheren Rang verzeichnet ist. Stimmen ohne Rangzahl für die beiden führenden Kandidaten werden nicht betrachtet.
  4. Gewinner ist der Sieger der absoluten Mehrheit der auf die beiden Kandidaten entfallenden Stimmen.

In der Regel dürften die beiden mit relativen Stimmanteilen führenden Kandidaten in Summe auf mindestens 50 Prozent der Stimmen kommen, so dass in der zweiten Runde der Auszählung maximal die andere Hälfte der Stimmen neu ausgezählt werden müsste. In den meisten Fällen werden allerdings wesentlich weniger Stimmen in der zweiten Runde erneut auszuzählen sein. Der entscheidende Kostenvorteil der integrierten Stichwahl liegt darin, dass die Wahlhelfer nur für einen Termin engagiert werden, dafür aber die Auszähler etwas mehr Zeit aufwenden müssen.

Das zweite Verfahren ist das direkte Ausscheidungsverfahren, englisch „Instant Run-off Voting“. Die ersten beiden Schritte sind identisch zur integrierten Stichwahl:

  1. Im Hauptwahlgang vergeben die Wähler Ränge von „1“ bis maximal zur Anzahl der Kandidaten oder alternativ nur ein Kreuz.
  2. In der ersten Wahlrunde werden die Stimmen mit „1“ und „Kreuz“ ausgezählt. Erhält ein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen, ist er gewählt.
  3. In der zweiten Wahlrunde werden alle Kandidaten aussortiert, die selbst mit der Summe ihrer aller Stimmen einen noch im Rennen verbliebenen Kandidaten nicht mehr einholen können. Im Mindesten ist das immer der Kandidat mit den wenigsten Stimmen, der mit seinen eigenen Stimmen niemanden übertrumpfen kann.
  4. Die Stimmen der ausgeschiedenen Kandidaten werden auf die noch im Rennen befindlichen Kandidaten verteilt. Und zwar erhält der Kandidat die Stimme, der auf dem Stimmzettel die niedrigste Rangzahl vorweisen kann. Stimmzettel, die keine Rangzahl für verbliebene Kandidaten aufweisen, zählen nicht mehr und werden ausgesondert.
  5. Kommt ein Kandidat auf die absolute Mehrheit der noch ausgezählten Stimmen, ist er gewählt. Ansonsten geht es mit dem Schritt 3 weiter. Spätestens, wenn nur noch zwei Kandidaten im Rennen sind, gibt es einen Sieger.

Für das zweite Verfahren möchte ich nachstehend ein Beispiel ausführen. Die Ergebnisse der Auszählungen könnten folgendes Bild in Anlehnung an die Stadtratswahl von Monheim in 2009 zeichnen:

Quelle: Eigene Darstellung

In der ersten Auszählungsrunde wird erkannt, dass alle Kandidaten ab dem der Grünen den SPD-Kandidaten nicht überflügeln können, da die Summe ihrer Stimmanteile (in Fettschrift) mit 20 Prozent knapp unter 20,3 Prozent liegt. Entsprechend scheiden diese Kandidaten alle aus. Sodann werden deren Stimmen auf CDU-, SPD- und PETO-Kandidaten gemäß der niedrigsten Rangzahl auf den jeweiligen Stimmzetteln verteilt. Der SPD-Kandidat scheidet in der zweiten Runde aus. Dessen Wähler haben im Beispiel mehrheitlich den PETO-Kandidaten vor dem CDU-Kandidaten gewählt, der dann überraschend obsiegt. (konstruiertes Beispiel)

Das zweite Verfahren gibt den Herausforderern, die nicht zu den beiden Favoriten zählen, höhere Chancen, im Verlaufe der Auszählung noch ausreichend Stimmen einzusammeln, um zu siegen. In der unmittelbaren Stichwahl sind die Chancen für diese Herausforderer ungleich geringer. Dafür ist das direkte Ausscheidungsverfahren aufwändiger auszuzählen und entspricht nicht der traditionell bekannten Stichwahl.

Ein Nachteil beider Verfahren in der praktischen Anwendung ist, dass bei einer dezentralen Auszählung in den einzelnen Bezirken der Kommune eine Koordination über die beiden Sieger der relativen Mehrheit bei der unmittelbaren Stichwahl beziehungsweise über die ausscheidenden Kandidaten bei der direkten Ausschlusswahl herbeigeführt werden muss. Dies ist entweder über eine verschlüsselte Telefonkonferenz, Chat oder Datenaustausch möglich, oder die Stimmen werden zentral ausgezählt.


Verrückt, oder wo gibt es das sonst noch?

Bei der Durchsetzung von Lösungen hilft es sehr, wenn diese bereits an anderer Stelle mit Erfolg angewandt worden sind. Zusätzlich hilft, wenn in der Wissenschaft Verfahren für gut befunden wurden. So kommt es sehr gelegen, dass zwei Nobelpreisträger, Eric Maskin und Amartya Sen, die Einführung des Rangwahlverfahrens im US-Bundesstaat Maine begrüßen. Ihrem Artikel ist auch nachstehende Grafik entnommen, die zeigt, dass Rangwahlverfahren bereits auf städtischer Ebene Verbreitung gefunden haben (rote Punkte) und in weiteren Städten zukünftig noch eingesetzt werden (rosa und orangene Punkte). Die Entwicklung in den USA zeigt eine recht klare Tendenz zur Einführung von einer stärkeren Nutzung der Rangwahlverfahren.

Quelle: A Better Electoral System in Maine, Eric Maskin and Amartya Sen, New York Times, 10. Juni 2018,
https://www.nytimes.com/2018/06/10/opinion/electoral-system-maine.html

Das Verfahren der direkten Ausschlusswahlen findet dergleichen auch in einer Reihe von weiteren Staaten Anwendung, zum Beispiel:

  • Australien, Wahlen zum Repräsentantenhaus
  • Indien, Wahl des Präsidenten
  • Irland, Wahl des Präsidenten
  • Neuseeland, Wahl der Bürgermeister

Bei der Rangwahl handelt es sich schön längst nicht mehr um ein experimentelles Verfahren. Es ist weltweit erprobt. Damit es sich durchsetzen kann, bedarf es allerdings einer Mehrheit in der Legislative, die über Rangwahlverfahren ausreichend informiert ist – allein daran scheitert es schon oft – und die einen Vorteil für die eigene Partei darin zu erkennen vermag. Letztere Voraussetzung wird mit einer CDU-geführten Regierung vorläufig nicht gegeben sein.


Fazit

Änderungen am Wahlrecht sind stets verbunden mit Machtpolitik. Ethische Überlegungen über ein besseres Wahlrecht werden mit vermeintlich wichtigen Argumenten bei Seite geschoben. Hier hilft es nur, dicke Bretter zu bohren, und das kann lange dauern. Was allerdings hoffen lässt ist, dass grundsätzlich eine Mehrheit für ein besseres Wahlrecht aus SPD, Grüne und FDP sowie anderen kleinen Parteien besteht, sobald der Kuhhandel zwischen CDU und FDP nicht mehr trägt. Obgleich die SPD ein Interesse an der unmittelbaren Stichwahl haben dürfte, warum sollte sie auch die weiteren Kandidaten in einer unmittelbaren Ausschlusswahl befördern wollen, könnten in dieser Koalition der Reformwilligen nun wiederum die kleineren Parteien ihre Interessen geltend machen. Ihre Zustimmung zu einer Modernisierung sollte von einem großen Schritt abhängig gemacht werden, nämlich von der Durchsetzung einer unmittelbaren Ausschlusswahl. In der Parteiarbeit von SPD, Grüne und FDP12 sollte dieses Ziel von unten kommend aus den kommunalen Verbänden bis zur Landesebene durchgesetzt werden.


Endnoten

[1] In dritter Lesung gegen die Stimmen von SPD und Grüne beschlossen, siehe www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_II/II.2/Gesetzgebung/Aktuell/01_Aktuelle_Gesetzgebungsverfahren/Kommunalwahlgesetz/index.jsp; dort ist unter „Beratungsvorgang“ meine Stellungnahme als Drucksache 17/1190 zu finden.

[2] Genaugenommen tritt die Änderung am 1. September 2019 in Kraft.

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Henriette_Reker

[4] Kommunalwahlen 2015, 13. Sept. 2015, Ministerium für Inneres und Kommunales, NRW, https://webshop.it.nrw.de/gratis/B859%20201551.pdf.

[5] Gleichwohl wäre es wünschenswert, dem Landtag läge eine umfassende empirische Studie zu den Stichwahlen in NRW vor. Leider ist mir eine solche Studie nicht bekannt.

[6] Siehe Landtag NRW Drucksache 17/4305, vgl. [1].

[7] Haushalt 2015, Band 1, S. 195 ff. unter dem Posten „0211 Wahlen“.

[8] Verschiebung der Wahl in Köln kostet eine Million Euro, Zeit, 3. September 2015, Download am 27.01.2019, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-09/koeln-wahl-oberbuergermeister-stimmzettel

[9] Position „1212102 Wahlen“; der Haushaltsplan 2014 konnte online nicht mehr gefunden werden.

[10] Abwahl von Bürgermeistern und Landräten durch Bürgerbegehren und Wiedereinführung der Stichwahl, Städtetag Nordrhein-Westfalen, Eildienst Informationen für Rat und Verwaltung, Heft 4, 5. April 2011.

[11] In meinem Kommentar kommen die juristischen Überlegungen sicher zu kurz. In den Stellungnahmen der Sachverständigen zum Gesetzesentwurf finden sich teils sehr ausführliche rechtliche Abwägungen, insbesondere bei Bätke, Landtag NRW Drucksache 17/1194, https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-1194.pdf.

[12] Zuversichtlich stimmen Entwicklungen im Kölner Bezirksverband der FDP, vgl. https://www.facebook.com/100013570153555/posts/627123834416616?sfns=mo.

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  1. […] dieser Art kommt daher das unmittelbare Ausschlussverfahren in Frage, welches ich in einem anderen Artikel vorgestellt […]

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